Beschluss des Schiedsgerichts – Ungültigkeit der Wahlen zur Gemeindevertretung vom 25.10.2020

In der August-Ausgabe des Gemeindeblattes haben viele Gemeindemitglieder vergeblich nach einer Information sowie eine Erklärung über die Ungültigkeit der Wahlen gesucht. Wahrscheinlich aus dem Grund, dass die Rosch-ha-Schana Ausgabe (wie übrigens alle Ausgaben) des Gemeindeblattes nur mit äußerst positiven Nachrichten gefühlt sein und ausschließlich über die „glorreiche Errungenschaften“ der Gemeinde unter seiner weisen Führung berichten sollte.

Der Redaktionsschluss der August-Ausgabe des Gemeindeblattes war am 06.08.2021. Die endgültige Entscheidung des Schiedsgerichtes war bereits am 29.07.2021 dem Vorstand der Gemeinde bekannt.

Hoffentlich wird es die Gerichtsentscheidung in der September-Ausgaben des Gemeindeblattes bekannt gegeben und erklärt.

Wie auf der außerordentlichen Versammlung vom 23.01.2021 verkündet wurde, wird das Thema Beschluss des Schiedsgerichtes auf der kommenden Gemeindeversammlung am 29.08.2021 erörtert.


Schieds- und Verwaltungsgericht
beim Zentralrat der Juden in Deutschland
Taunusanlage 18 D- 60325 Frankfurt am Main

In dem Verfahren
AZ.: 01-21/006-2020

Herzs Krymalowski

Prozessbevollmächtigte: Alter & Knoch Rechtsanwälte und Notare

– Antragsteller-

gegen

Synagogen-Gemeinde Köln KdöR

vertreten durch den Vorstand

Prozessbevollmächtigte: Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH

– Antragsgegnerin —

ergeht auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juli 2021 vor der 1. Kammer des Schieds- und Verwaltungsgerichts folgender

Beschluss:

I. Die Wahl zur Gemeindevertretung der Antragsgegnerin vom 25.10.2020 ist ungültig.

II. Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, bis spätestens 31.12.2021 Neuwahlen der Gemeindevertretung durchzuführen.

III. Der Vorstand der Antragsgegnerin bleibt bis zu der Neuwahl des Vorstands kommissarisch im Amt.

IV. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

V. Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt

 

Gründe:

A)

Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag die Überprüfung der Wahl der Gemeindevertretung der Antragsgegnerin vom 25.10.2020 und die Feststellung der Ungültigkeit dieser Wahl.

Am 25.10.2020 fand in der Jüdischen Gemeinde Köln die Wahl zur Gemeindevertretung statt, die von dem zuvor in einer Mitgliederversammlung ordentlich gewählten Wahlausschuss vorbereitet und begleitet wurde. Unter Einhaltung der Voraussetzungen des § 5 der Wahlordnung der Antragsgegnerin wurden insgesamt 18 Kandidaten für die Wahl vorgeschlagen. Die Ankündigung über die Auslegung des Wählerverzeichnisses gemäß § 3 Abs. 4 der Wahlordnung der Antragsgegnerin, in dem die wahl- und stimmberechtigten Mitglieder der Antragsgegnerin aufgeführt waren, wurde dabei versäumt.

Am Wahltag selbst, an dem die Wahlberechtigten von 10.00 — 18.00 Uhr Zeit hatten, ihre Stimme abzugeben, haben zwei Kandidaten vor dem Wahllokal auf die auf dem Weg zu Wahl befindlichen Mitglieder eingewirkt, indem sie diese noch einmal freundlich angesprochen und / oder ihnen Schokoladentafeln überreicht haben, auf denen die Namen der Personen gelistet waren, denen sie nach Möglichkeit ihre Stimme geben sollten.

Im Wahllokal selbst wurden den Kandidaten Stimmzettel ohne Wahlumschläge ausgegeben, welche ausgefüllt und gefaltet in die bereitstehenden Urnen geworfen werden sollten. Der gesamte Wahlvorgang erfolgte unter notarieller Aufsicht.

Nach der Auszählung, die unmittelbar nach dem Wahlvorgang stattfand, stand fest, dass der Antragsteller nicht in die 15-köpfige Gemeindevertretung gewählt worden ist.

Die Wahlniederschrift des Wahlausschusses verzeichnet keine besonderen Vorkommnisse oder Störungen des Wahlvorgangs.

Am 02.11.2020 hat der Antragsteller ordnungsgemäß Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl gemäß § 16 der Wahlordnung der Antragsgegnerin bei der Antragsgegnerin eingereicht und das Schiedsgericht bei dem Zentralrat in Kenntnis gesetzt, wo im weiteren Verlauf das nun anhängige Verfahren eröffnet wurde.

Der Antragsteller ist der Ansicht, dass die Wahl aus 3 Gründen ungültig ist.

Erstens sei das Wählerverzeichnis unter Verstoß gegen § 3 Nr. 4 der Wahlordnung der Antragsgegnerin nicht zur Einsichtnahme ausgelegt worden.

Zweitens habe durch zwei Kandidaten zur Wahl der Gemeindevertretung eine unzulässige Beeinflussung der Wähler am Wahllokal gemäß § 8 Nr. 4 der Wahlordnung der Antragsgegnerin stattgefunden.

Und drittens seien die Stimmzettel den Wählern weder mit einem verschließbaren Umschlag ausgehändigt worden, noch sei es dadurch möglich gewesen, die ausgefüllten Stimmzettel in einem verschlossenen Umschlag abzugeben, was die Ungültigkeit der Stimmen gemäß §§ 9,11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin nach sich ziehe.

Der Antragsteller beantragt deshalb, die Ungültigkeit der Wahl zur Gemeindevertretung der Antragsgegnerin vom 25.10.2020 festzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt, die Zurückweisung des Antrags.

Sie ist der Auffassung, dass die vorliegenden Verstöße nicht dazu geeignet seien, die Ungültigkeit der Wahl zu begründen.

Zwar sei die Ankündigung für die Auslegung des Wählerverzeichnisses versehentlich unterblieben, aber es sei dennoch für mindestens 2 Wochen ausgelegt worden. Außerdem sei der diesbezügliche Einspruch verfristet.

Die Aktivitäten von 2 Kandidaten im Umfeld des Wahllokals sei keine unzulässige Wahlbeeinflussung, vor allem sei die Kausalität dieser Handlungen für das Wahlergebnis nicht erkennbar.

Schließlich habe man mit Blick auf die Corona-Pandemie Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, die dazu geführt hätten, dass keine Wahlumschläge ausgeteilt werden konnten. Mit Speichel zuzuklebende Umschläge hätten eine zu hohe Infektionsgefahr bedeutet. Und selbstklebende Umschläge seien nicht verfügbar gewesen. Außerdem hätte das Eintüten und zukleben mit Blick auf das hohe Alter vieler Wähler zu viel Zeit beansprucht, so dass sich Schlangen von Wählern hätten bilden können und die Aerosolentwicklung zu hoch gewesen wäre. wodurch wiederum die Infektionsgefahr gestiegen wäre. Das Wahlgeheimnis sei auch dadurch gewahrt, dass die Wahlunterlagen gefaltet worden wären.

Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze des Antragstellers vom 02.11.2020, 25.03., 24.06. sowie 28.07.2021 sowie die Schriftsätze der Antragsgegner vom 26.02., 02.06. und 20.07.2021 sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29.07.2021 verwiesen.

B)

Der Antrag auf Überprüfung der Wahl zur Gemeindevertretung der Antragsgegnerin und die Feststellung der Ungültigkeit, ist zulässig und begründet.

1)

Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist das angerufene Schiedsgericht beim Zentralrat der Juden in Deutschland gemäß § 15 Ziffer 4 lit. b) der Schiedsordnung iVm. § 16 der Wahlordnung der Antragsgegnerin der Antragsgegnerin zuständig.

Etwaige Divergenzen zwischen den in § 16 der Wahlordnung der Antragsgegnerin formulierten Zuständigkeiten oder den Voraussetzungen für die Einleitung oder Überleitung eines Verfahrens und denjenigen in der Schieds- und Kostenordnung des Oberen Schieds- und Verwaltungsgerichts beim Zentralrat der Juden genannten, können nicht zu Lasten des Antragstellers ausgelegt werden, zumal es sich im Fall der betreffenden Vorschriften in der Schieds- und Kostenordnung des Schiedsgerichts lediglich um Ordnungsvorschriften handelt.

Auf die wirksame Einleitung eines Schiedsverfahrens hat dies allerdings keinen Einfluss.

2)

Der Antrag ist auch begründet, da ein Verstoß gegen § 11 Nr. 1 iVm. § 9 Nr. 2 der Wahlordnung der Antragsgegnerin vorliegt, da den Wählern für den Wahlvorgang weder Umschläge mit dem Siegel der Antragsgegnerin ausgehändigt wurden noch die Wahlzettel in einem amtlichen Wahlumschlag abgegeben worden sind.

Damit trat in jedem einzelnen Fall die zwingende Rechtsfolge des § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin ein, wonach Stimmen ungültig sind, wenn der Stimmzettel nicht in einem amtlichen Wahlumschlag abgegeben worden ist.

Sämtliche bei dem Wahlvorgang abgegebenen Stimmen waren damit ungültig, da in keinem einzigen Fall die Einhaltung der zwingenden Vorschrift des § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin gewährleistet wurde.

Die Antragsgegnerin hat mit dieser Formulierung in der Wahlordnung samt der daraus resultierenden drastischen und eindeutigen Rechtsfolge eine autonome Entscheidung aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts als korporierte Religionsgemeinschaft getroffen, die über die allgemeinen Grundsätze einer geheimen Wahl und deren mögliche Rechtsfolgen bei einer Verletzung dieser wesentlichen Wahlrechtsgrundsätze hinausgeht.

Daran ändert auch der Verweis auf die Entscheidung des OVG Münster (1A 1541/-99.PVB) nichts. Zwar hat das OVG in dieser Entscheidung – wie die Antragsgegnerin zutreffend ausführt – festgestellt, dass die fehlende Nutzung von Wahlumschlägen nicht zwingend gegen den Grundsatz der geheimen Wahl verstoßen, da auch die einfache oder doppelte Faltung diesem Erfordernis genüge tuen könne. Und die Gewährleistung des Wahlgeheimnisses verlange im Übrigen auch nicht – gewissermaßen aus der Natur der Sache folgend – zwingend die Verwendung von Wahlumschlägen. Bewertungsmaßstab waren in diesem Einzelfall allerdings betreffenden Normen innerhalb der Wahlordnung der Schwerbehindertenvertretung, die zwar Vorgaben für ein geordnetes Wahlverfahren beinhalten, welches die wesentlichen Wahlrechtsgrundsätze berücksichtigt, aber keinerlei Rechtsfolgen für den Fall eines Verstoßes gegen diese Abläufe festlegt.

Das bedeutet, dass die Rechtsfolgen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls und unter Einbeziehung allgemeiner Erwägungen mit Blick auf Wahlrechtsgrundsätze durch Abwägungsprozesse zu bewerten waren, ohne dass eine Vorschrift innerhalb der betreffenden Wahlordnung diesbezüglich Aussagen getroffen oder Rechtsfolgen vorgesehen hätte.

Im vorliegenden Fall haben wir es allerdings mit einer anderen Sachlage zu tun.

Hier nämlich wurden von der höchsten Entscheidungsinstanz der Antragsgegnerin, also der Gemeindeversammlung, Wertentscheidungen getroffen, die mit Blick und unter Heranziehung allgemeinerer Erwägungen nicht ohne weiteres revidiert werden können.

Mit anderen Worten: die Antragsgegnerin hat – aus welchen Gründen auch immer – ein Wahlverfahren mit teils recht strengen Vorgaben festgelegt, das mitunter deutlich über das hinausgeht, was in anderen Wahlordnungen festgelegt ist. Und sie hat bis heute daran festgehalten. Sie hat außerdem in bestimmten Fällen klare und eindeutige Rechtsfolgen für den Fall des Verstoßes gegen diese Vorschriften verankert. Und diese lassen sich durch allgemeine Erwägungen und Abwägungen nicht aushebeln, da sie elementarer Ausfluss der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts der Antragsgegnerin sind und sie dazu befähigen ihre eigenen Angelegenheiten ihrem eigenen Selbstverständnis folgend durch Satzungen und Ordnungen zu regeln. Davon ist das Wahlverfahren ebenso umfasst, wie alle anderen Regelungen, welche die Antragsgegnerin beschlossen und kodifiziert hat.

Deshalb ändert auch der Hinweis auf eine geänderte Praxis im Hinblick auf solche Wahlvorgänge nichts, die auf Grundlage des Bundeswahlgesetzes vorgenommen werden. Es liegt zwar durchaus nahe, dass die Antragsgegnerin sich bei der Verfassung der Wahlordnung an den Vorschriften des seinerzeit – also im Jahr 1993 – geltenden BWahlG orientiert hat. Denn dies ergibt sich aus den in Teilen wortgleichen Formulierungen in früheren Fassungen des BWahlG einerseits und der der Wahlordnung der Antragsgegnerin der Antragsgegnerin andererseits. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass eine jede Änderung des BWahlG automatisch auch auf die der Wahlordnung der Antragsgegnerin durchschlagen müsste oder die der Wahlordnung der Antragsgegnerin fortan im Lichte der Erwägungen, die mit einer Änderung des BWahlG einhergingen, ausgelegt werden müsste.

Der Umstand, dass im Bereich des BWahlG aus unterschiedlichen Erwägungen heraus (u.a. Ressourcen und Umweltschutz) auf einen Wahlumschlag verzichtet wird, kann deshalb auch nicht dazu führen, die in § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin formulierten Erfordernisse für obsolet zu halten oder die vorgesehenen Rechtsfolgen bei vorliegenden Verstößen gegen diese Vorschrift, die nicht zugleich Verstöße gegen die geänderten Vorschriften des BWahlG darstellen, geflissentlich zu übergehen.

Würde man dies zu Ende denken würde das nämlich bedeuten, dass jede Änderung eines Bundesgesetzes, an dem sich andere juristische Personen in der Formulierung ihrer eigenen originären Satzungen oder Ordnungen orientiert haben, automatisch und ohne weiteres Zutun der Satzungsgeber zu einer Änderung dieser Vorschriften oder zumindest deren Auslegung führen würde.

Mit anderen Worten: die Änderung eines Bundesgesetzes würde auf die in Anlehnung an diese Vorschriften formulierten Bestimmungen anderer juristischer Personen oder sonstiger Rechtsträger unmittelbar durchschlagen.   Das allerdings würde den rechtsstaatlichen Grundprinzipien ebenso zuwiderlaufen, wie der der föderalen Struktur und erst recht dem elementaren und weitreichenden Selbstbestimmungsrechtsrecht der Religionsgemeinschaften, durch das eben diesen garantiert wird, ihre Angelegenheiten unabhängig, autonom und nach ihrem eigenen Selbstverständnis zu regeln.

Die Antragsgegnerin hätte – falls sie das gewollt oder für nötig oder sinnvoll erachtet hätte – jederzeit die Möglichkeit gehabt, ihre Satzung und ihre Ordnungen anzupassen oder zu ändern.

Das allerdings hat sich nicht getan, sondern hat stattdessen an den im Jahr 1994 beschlossenen Regelungen festgehalten, die nun zur Anwendung gelangen. Insoweit hat auch das Gericht bei seiner Entscheidung die Einhaltung dieser Vorschriften und die aus einem Verstoß resultierenden Rechtsfolgen zu berücksichtigen. Zumal diesbezüglich keinerlei Ermessensspielraum ersichtlich ist, sondern stattdessen klare und eindeutige Konsequenzen formuliert sind.

Daran können auch die besonderen, der Corona-Pandemie geschuldeten, Umstände nichts ändern unter denen die Wahl abgehalten werden musste. Das Gericht erkennt durchaus an, dass der Wahlausschuss und die Entscheidungsträger der Antragsgegnerin weitreichende Überlegungen angestellt haben, um den Gesundheitsschutz der Wähler und der Wahlhelfer zu gewährleisten. Gerade in den von Unsicherheit und Sorge geprägten Zeiten, die in der Corona-Pandemie ihre Ursache hatten, mussten Entscheidungen mal sehr schnell und mal nach sorgfältiger Abwägung getroffen werden, wobei oftmals keine Möglichkeit bestand, auf geschichtliche Blaupausen oder Erfahrungen aus dem Vergleich mit vergangenen, ähnlichen Situationen zurückzugreifen. Stattdessen bewegten sich Entscheidungsträger und Verantwortliche auf allen Ebenen auf unsicherem und mitunter schwer zu beschreitendem Terrain.

Gleichwohl rechtfertigt dies nicht den lockeren Umgang mit den zwingenden Vorschriften des § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin und eine Vorgehensweise des Wahlausschusses und der ihn unterstützenden Verwaltung der Antragsgegnerin, der offenbar keine ausreichend weitgehenden Überlegungen zugrunde lagen, wie man den Gesundheitsschutz der Wähler mit den strengen Vorgaben der Wahlordnung in diesem besonderen Fall und mit Blick auf die hier formulierte Erwartungshaltung in Einklang bringen kann.

Die Antragsgegnerin hat in ihren ersten Einlassungen etwa wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass keine selbstklebenden Umschläge in ausreichender Zahl vorhanden waren, die für die Wahl hätten benutzt werden können. Stattdessen habe man am Wahltag selbst entschieden, auf die zur Verfügung stehenden Wahlumschläge, die mit Spucke zu schließen gewesen wären, aus Gründen der erhöhten Infektionsgefahr und dem Umstand, dass Speichel nach damaligem Kenntnisstand auch über viele Stunden infektiös bliebe, zu verzichten.

Auch diesbezüglich blieben allerdings Fragen offen. Etwa weshalb man die Benutzung von Briefbefeuchtern nicht in Erwägung gezogen hat, welche die Benutzung des eigenen Speichels obsolet gemacht hätten. Oder warum man nicht in Erwägung gezogen hat, die Wahlzettel zwar in amtlichen Umschlägen abgeben zu lassen, dabei allerdings auf das Erfordernis zu verzichten, diese zukleben zu müssen, was den maßgeblichen Vorschriften der Wahlordnung der Antragsgegnerin wohl genüge getan hätte. Oder warum man – wenn man schon von der Umsetzung der Vorschriften des § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin absehen wolle – dies nicht mit schriftlichen für alle sichtbaren Hinweisen auf die pandemiebedingte Lage deutlich gemacht hat. Sprich: warum wurden keine Informationen ausgehängt, mit denen man die Wähler auf den Verzicht dieser elementaren Erfordernisse hinweist.

Schwerer wiegt allerdings der Umstand, dass der Wahlausschuss offenbar weder die Benutzung von selbstklebenden Umschlägen erwogen hat noch deren rechtzeitige Beschaffung betrieben hat. Unabhängig von dem Umstand, dass die Zahl der Infizierten gerade in den Tagen vor der Wahl noch einmal stark anstieg, wäre es doch naheliegend und möglich gewesen, sich rechtzeitig um selbstklebende Umschläge zu bemühen, die sowohl der Gefährdungslage wie auch den Vorschriften der Wahlordnung der Antragsgegnerin Rechnung getragen hätten. Dies ist allerdings schlicht versäumt worden und soll nun nachträglich dadurch geheilt werden, dass die Benutzung von Umschlägen unter Pandemiebedingungen als unkalkulierbares Risiko für die Wähler dargestellt wird.

Etwa durch die Ausführungen, wonach das Eintüten und das Verschließen der Umschläge gerade bei älteren Menschen soviel Zeit in Anspruch nehme, dass sie und andere dadurch einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt worden wären, weil sich dadurch lange Schlangen von wartenden Wahlwilligen hätten bilden können oder die Aerosolanreicherung in diesen Phasen zu stark angestiegen wäre. Wenn dies tatsächlich die zum Zeitpunkt der Wahl vorherrschenden Motive gewesen sein sollten, auf selbstklebende Umschläge verzichten zu wollen – was das Gericht schon aufgrund der Chronologie des Vortrags der Antragsgegnerin stark bezweifelt -, hätte es auch zum damaligen Zeitpunkt eine ganze Reihe von Möglichkeiten gegeben, um diesen Bedenken mit unterschiedlichen organisatorischen Maßnahmen abzuhelfen.

Wenn die Pandemiesituation, das Infektionsgeschehen und die Ansteckungsgefahr für die Wähler aber tatsächlich so dramatisch, unüberschaubar und unkalkulierbar gewesen wäre, wie dies nun behauptet wird, dann hätte die Wahl überhaupt nicht stattfinden dürfen, sondern hätte stattdessen abgesagt werden müssen. Dieser Schritt erfolgte allerdings nicht.

Eine solche Bewertung des Gerichts resultiert nicht aus der „Arroganz der Rückblickenden“, wie die Antragstellerin meint, sondern ist vielmehr Folge einer sorgfältigen Bewertung von zwingenden Wahlgrundsätzen, wie sie in der Wahlordnung der Antragsgegnerin ihren Niederschlag gefunden haben, auf der einen Seite und der Berücksichtigung der erschwerten Bedingungen und Entscheidungen, die mit Blick auf das dynamische Infektionsgeschehen zu treffen waren auf der anderen Seite.

Offen bleiben kann dabei die Frage, ob und wann der Punkt erreicht worden wäre, an dem die Bemühungen der Antragsgegnerin zum Schutz der Wähler vor einer Infektion mit dem Coronavirus tatsächlich dazu geführt hätten, die Vorschriften des § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin entweder entgegen dem klaren und zwingenden Wortlaut auszulegen oder deren Außerachtlassung zu rechtfertigen, da die damalige Gesamtsituation unter Berücksichtigung der Anzahl der Wähler, des Zeitraums, in dem gewählt wurde, der räumlichen Situation und der zur Verfügung stehenden Mittel ausreichend Möglichkeiten bot, die Einhaltung des § 11 der Wahlordnung der Antragsgegnerin auch unter deutlich erschwerten Bedingungen einzuhalten, ohne die Gefährdungslage für die Wähler signifikant zu erhöhen oder unkalkulierbare Risiken einzugehen.

In jedem Fall aber hätte das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werden müssen, wenn die Wahlordnung schon in solch evidenter Weise verletzt wird. Denn der berechtigterweise verfolgte Zweck des Gesundheitsschutzes hätte auch durch mildere Mittel und durch weniger einschneidende Maßnahmen als die Nichtbenutzung von Wahlumschlägen, welche nach der Wahlordnung unbedingt erforderlich waren, erfolgen können. Die Antragsgegnerin hätte die Wahlberechtigten bei der Aushändigung der Wahlunterlagen etwa eindringlich darauf hinweisen können, dass die Umschläge aus Infektionsschutzgründen gar nicht zugeklebt werden sollen, sondern die Wahlzettel in dem geschlossenen, aber nicht zugeklebten Wahlumschlag abzugeben seien.

Dies hätte man überdies durch schriftliche Aushänge verstärken können, in denen die Ausnahmesituation nochmals erläutert wird. Hierdurch wäre ohne Verletzung der Wahlordnung dem Gedanken des Gesundheitsschutzes nach Auffassung des Gerichts ausreichend Rechnung getragen worden.

Offenbleiben kann darüber hinaus, ob nicht auch das unstreitige Versäumnis der unterbliebenen Bekanntmachung über die Auslegung des Wählerverzeichnisses und die damit verbundene Einsichtnahmemöglichkeit für die Wähler Auswirkungen auf die Gültigkeit der Wahl hat. Gleiches gilt für die Frage, ob die Handlungen von 2 Kandidaten im unmittelbaren Umfeld des Wahllokals einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das in § 8 der Wahlordnung der Antragsgegnerin normierte Verbot der Wahlbeeinflussung darstellen, dass daraus die Ungültigkeit der Wahl abzuleiten wäre.

Denn der Verstoß gegen § 11 Nr. 1 der Wahlordnung der Antragsgegnerin ist – wie ausgeführt – für sich allein genommen schon so schwerwiegend und von eindeutigen Rechtsfolgen begleitet, dass es einer Entscheidung über die Konsequenzen des Verstoßes gegen § 3 Nr. 4 der Wahlordnung der Antragsgegnerin und des vom Antragsteller behaupteten Verstoßes gegen § 8 Nr. 4 nicht bedarf.

Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass der Wahlvorgang unter notarieller Aufsicht erfolge und das Wahlprotokoll keine besonderen Vorkommnisse oder Störungen der Wahl verzeichnete. Denn der juristische Beistand war offensichtlich nicht schon im Vorfeld des Wahlvorgangs hinzugezogen worden, um den Wahlausschuss in rechtlichen Fragen zu beraten oder ihm bei den zu treffenden Entscheidungen zur Seite zu stehen, sondern war stattdessen als eine Art Wahlbeobachter zu verstehen, der den Ablauf und die Auszählung im Wahllokal beaufsichtigte. Da die maßgeblichen Versäumnisse, welche die Feststellung der Ungültigkeit der Wahl nach sich ziehen, allerdings bereits im Vorfeld der Wahl stattfanden und den Wahlablauf als solchen eben so wenig berührten wie die Auszählung als solche, ist die Formulierung im Wahlprotokoll keine Überraschung.

Da wegen Außerachtlassung der Erfordernisse des § 11 Nr. 1 iVm. § 9 Nr. 2 der Wahlordnung der Antragsgegnerin nach all dem keine gültigen Stimmen bei der Wahl zur Gemeindevertretung am 25.10.2020 abgegeben worden sind, blieb dem Gericht nichts anderes übrig, als die Ungültigkeit der Wahl festzustellen.

1 Kammer
des
Schieds- und Verwaltungsgerichts
beim Zentralrat der Juden in Deutschland

Frankfurt, 29.07.2021

gez. D. Neumann        gez. N. Gelbart           gez. R. Graetz

Vorsitzender               Schiedsrichter            Schiedsrichter

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